Efeu - Die Kulturrundschau - Archiv

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Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.06.2024 - Bühne

Szene aus "Sancta" © Nicole Marianna Wytyczak

Derzeit am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin zu sehen, dann bei den Wiener Festwochen, schließlich in Stuttgart und an der Volksbühne: Florentina Holzinger hat eine dreistündige feministische Messe mit dem Titel "SANCTA" frei nach Paul Hindemith inszeniert, samt nacktem Damenchor, Riesenkruzifix, Blut- und Weinregen - und Ulrich Seidler (BlZ) ist genauso hingerissen wie das Publikum, das der schließlich ebenfalls nackt auftretenden, blutenden Regisseurin stehende Ovationen spendet: "Es gibt Bekenntnisse, Heiligsprechungen, die ganze Schöpfungsgeschichte wird einem hergelaufenen, obdachlosen und drogenverstrahlten Gottessohn mit phallischem Baguette abgeknöpft und umgedeutet. Die Sixtinische Kapelle stürzt ein, beim Abendmahl gibt es ein Stück gebratenes Menschenfleisch, das einer Performerin vorher mit dem Skalpell aus den Rippen geschnitten wurde - nur ein fingernagelgroßes Stücken, das aber nicht erst in Brot verwandelt, sondern direkt verspeist wird, mit Pfeffer und Salz."

Auch Nachtkritiker Georg Kasch ist weitgehend zufrieden, wenn Holzinger "Religion als männliches Narrativ und die Kirche als männliches Machtzentrum" zertrümmert: "Da zerhämmern Kletterinnen jene berühmte Abbildung in der Sixtinischen Kapelle, in der Gott Adam Leben verleiht... Da donnern zwei Frauen an Haken, die ihnen durch den Rücken getrieben wurden, gegen riesige Bleche. (...) Schön ist, dass die körperlichen Krassheiten, die man aus anderen Holzinger-Arbeiten kennt, hier mit Bezug auf Bibel, Liturgie und Heiligengeschichten noch mal eine neue Dringlichkeit bekommen. (...) Nicht alle Einfälle besitzen diese Kraft. Ein wenig wohlfeil und auch langatmig wirken jene Episoden, in denen Jesus als Outsider-Schluffi die Bühne entert und auf Englisch, Österreichisch und Schweizerdeutsch auf das Establishment und die Kirche schimpft." In der SZ hebt Egbert Tholl vor allem die Musik hervor: "Man hört Musik von Gounod, Bach oder Rachmaninow, neu komponierte Übergänge und echte eigene (seltsame) Zutaten vor allem von Johanna Doderer, aber auch Musical, eine superironische Metal-Nummer, Jesus (...) tritt mit Eminem auf..." "Künstlerisch mag man 'Sancta' unterschiedlich bewerten; das Anliegen aber bleibt ein brennendes", meint Susanne Benda im Tagesspiegel.

Szene aus "Work". Foto: Moritz Haase

An der Volksbühne lässt derweil Susanne Kennedy gemeinsam mit Markus Selg in "Work" "echsenhafte" Wesen in Latexmasken auftreten, um anhand einer Künstlerin namens "Xenia" über Leben und Kunst, auch von Kennedy und Selg selbst, zu reflektieren, berichtet Nachtkritikerin Esther Slevogt, die der Abend ein wenig ratlos zurücklässt: "In den Versatzstücken ehemaliger und gegenwärtiger Arbeiten soll das Leben der Künstlerin Xenia also von ihr selbst noch einmal inszeniert werden. (...) Natürlich scheitert die Imitation des Lebens in der Kunst am Ende. Und es kommt in 'The Work' zu einem ganz physischen Akt: Die Spieler*innen entledigen sich ihrer Hosen und zwischen ihren Beinen wird ein seltsames Geschlecht erkennbar, aus dem nach geburtseinleitenden Maßnahmen erst blutiger Schleim und dann tatsächlich aus einer Art glibberiger Fruchtblase kleine Xenia-Figuren entbunden werden. Ist das jetzt die Essenz?" "Viel verlorene Zeit", resümiert Peter Laudenbach in der SZ, während Christine Wahl im Tagesspiegel die Selbstironie von Kennedy und Selg schätzt.

Weitere Artikel: Nachrufe auf den im Alter von 82 Jahren verstorbenen Schauspieler, Regisseur und "Bühnenmagier" Alexander Lang, der nicht nur am Deutschen Theater, sondern auch an der Comedie française inszenierte, schreiben Kerstin Decker im Tagesspiegel und Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. In der FAS spricht Wiebke Hüster mit dem Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui über Homosexualität, Arabischsein und die Arbeit mit Madonna oder Beyoncé. In der NZZ erinnert Christian Wildhagen an Richard Wagners elfjähriges Exil in der Schweiz. Besprochen wird Anita Vulesicas Inszenierung "Die Gehaltserhöhung" von Georges Perec in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin (FAZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.05.2024 - Bühne

Zeit Online und SZ resümieren die Preisverleihung in der Konrad-Adenauer-Stiftung an den Schauspieler Ulrich Matthes, die Laudatio hielt Matthes' gute Freundin Angela Merkel. Das Van Magazin lässt eine Opernsängerin vom Neid auf und hinter der Bühne schreiben.

Besprochen werden: Die auf dem gleichnamigen Kafka-Roman basierende Oper "Amerika" von Roman Haubenstock-Ramati an der Oper Zürich (Welt), die neue Spielzeit im Staatstheater Wiesbaden (FR), "Searching for Zenobia" von Lucia Ronchetti auf der Münchner Musiktheater-Biennale (SZ), "Sancta" von Florentina Holzinger am Mecklenburgischen Staatstheater (Van) und "Haus ohne Ruhe" auf Basis der "Orestie" von Zinnie Harris am Theater Ingolstadt (Nachtkritik).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.05.2024 - Bühne

Nachtkritikerin Gabi Hift resümiert den ersten Prozess, den Milo Rau in seiner ausgerufenen Freien Republik Wien im Rahmen der Wiener Festwochen inszeniert hat. 69 Menschen aus den 23 Wiener Bezirken diskutierten ein Wochenende lang über Vorwürfe aus der Coronazeit: "Angeklagt war die Republik Österreich. Ankläger und Verteidiger waren echte Staranwälte. Den Vorsitz hatte die frühere Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Irmgard Griss. Die Geschworenen wurden aus dem Rat der Republik heraus gecastet und wirkten hier viel eher in ihrem Element, konzentriert und interessiert. Vom ersten Sitzungstag an dominierte die Anstrengung. Alle Argumente, die man hört, kennt man schon. Aber es wird einem dadurch, dass man sich zwingt zuzuhören, richtig bewusst, welche Arbeit Demokratie bedeutet. Wie das ist, abzuwägen, etwas wieder und wieder durchzukauen, dranzubleiben. Zu verstehen. Man spürt eine große Sehnsucht, sich in diesen vernünftigen Bahnen zu bewegen, auf diese Weise zu Entscheidungen zu kommen. In einem solchen Gemeinwesen zu leben, in dem die Vernunft regiert."



Weitere Artikel: Ein ganz besonderes Fan-Girl hielt mit Angela Merkel die Laudatio auf den Schauspieler Ulrich Matthes, der den "Hommage" betitelten Kulturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhielt, resümiert unter anderem Peter von Becker im Tagesspiegel, in der nachtkritik schreibt Esther Slevogt. Für die Welt wirft Jakob Hayner einen Blick in die Fortsetzung von Elfriede Jelineks Endlos-Drama "Die Schutzbefohlenen - Was danach geschah", in dem sich die österreichische Schriftstellerin dem rechten Treffen in Potsdam widmet und die er der Inszenierung von Kay Voges am Berliner Ensemble vorzieht: "Kurz nach Veröffentlichung wurde das Personal des Potsdamer Treffens - unterbrochen durch Correctiv-Werbeblöcke - satirisch überspitzt vorgeführt. Viel empörte Selbstgefälligkeit, die einer tieferen Kritik im Weg stand, wie auch bei den großen Demonstrationen gegen Rechts. Von Jelineks Chor darf sich hingegen auch die 'Mitte der Gesellschaft' angesprochen fühlen." Das Deutsche Theater hat sich mit dem entlassenen Geschäftsführer Klaus Steppat vor Gericht auf eine Abfindungssumme von 165.000 Euro geeinigt, meldet Christiane Peitz im Tagesspiegel.

Besprochen werden Milos Raus Genter Inszenierung "Medeas Kinder" im Wiener Jugendstiltheater am Steinhof (Standard), das Mini-Theater-Festival "Uwaga" in Osnabrück (taz) und Christiane Rösingers nun auch beim Impulse-Festival gezeigte "große Klassenrevue" (nachtkritik). Ebenfalls in der nachtkritik spricht der scheidende Impulse-Festivalleiter Haiko Pfost über safe spaces und die Herausforderungen der freien Szene.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.05.2024 - Bühne

Dass Marco Goecke, der Hundekotaggressor von Hannover, alsbald neuer Balletchef des Theaters Basel wird, findet FAZ-Autor Johannes Franzen gar nicht komisch. Insbesondere irritiert zeigt sich Franzen von dem Geniebonus, der Goecke offensichtlich eingeräumt wird, insbesondere auch in einer von der Täterperspektive dominierten Berichterstattung: "Es kommt selten vor, dass der Täter im Diskurs um seine Tat das Narrativ der Rehabilitierung selbst so umfangreich gestalten darf. Man stelle nur das Gedankenexperiment an, ein solcher Übergriff wäre nicht von einem sensiblen Künstlergenie verübt worden, sondern von einem im Kopfrechnen besonders begabten Sparkassenfilialleiter oder einem Autohausmitarbeiter am Rande des Burnouts. Beim besten Willen würde eine solche Tat nicht mit denselben Argumenten gerechtfertigt." Auf nachtkritik kommentiert Esther Slevogt.

Parallax bei den Wiener Festwochen © Nurith Wagner-Strauss

Auf den Wiener Westwochen feiert Kornél Mundruczós neues Stück "Parallax" Premiere. Es geht, unter anderem, um eine unter Demenz leidende Holocaustüberlebende und ihre Tochter, auch eine schwule Sexparty kommt vor. In Mundruczós Heimat wird das Stück nicht zu sehen sein. Im Standard ist Michael Wurmitzer ziemlich angetan: "Mal diskursiv extrem komprimiert, aber ohne zu belehren, ist Parallax an anderen Stellen wieder herrlich verschwenderisch verspielt. Wie das Licht durchs Küchenfenster fällt und so schön die Tageszeiten markiert, wie der Regisseur Livevideo und Bühne kombiniert, Realismus mit ureigenstem Bühnenzauber mixt, für Lachen und Mucksmäuschenstille im Publikum sorgt - das ist einfach toll." Gabi Hift schreibt über die Aufführung auf nachtkritik, Egbert Tholl für die SZ, Uwe Mattheis für die taz.

Hannes Hintermeier hat in der FAZ derweil Spaß mit Michael Niavaranis Antike-Komödie "Venus & Jupiter", das ebenfalls in Wien, auf dem Festival "Theater im Park", aufgeführt wird. Spritziges Volkstheater wird hier geboten, ganz besonders, wenn Venus plötzlich als Mann erwacht: "Sie macht die größte Verwandlung durch - von der oberen Führungskraft im Götterhimmel zum Zipfelschwinger in Lederhose. Unten zwickt's, oben juckt der Bart. Das produziert Lachsalven, besonders wenn im Fall sexueller Erregung bei Octavia das Oberstübchen den Dienst quittiert und das 'Hochparterre' das Kommando übernimmt. Es geht viel um Küssen, Sex, Erektionen, Fürze, und da Teile des Ensembles breiten Wiener Dialekt sprechen, ist für ausreichend Fallhöhe zum hohen Ton der Götter gesorgt."

Außerdem: Wiebke Hüster berichtet in der FAZ von iranischen Choreografen und Tänzern, denen in ihrer Heimat die Ausübung ihres Berufes verboten wurde. Marco Frei schreibt in der NZZ über Querelen an der Bayerischen Staatsoper.

Besprochen werden ein gemixter Abend in der Frankfurter Alten Oper mit Stücken von unter anderem Peter Eötvös (FR), die Gob Squad-Aufführung "Dancing with our neighbours" im HAU Berlin (nachtkritik), eine "Peer Gynt"-Aufführung auf den Festpielen Bergen (FAZ), Sergej Prokofjews "Die Liebe zu den drei Orangen" am Theater Bremen (taz Nord) und Richard Strauss' "Elektra" am Theater Brandenburg (nmz).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.05.2024 - Bühne

Szene aus "Die Gehaltserhöhung" am Deutschen Theater Berlin. Foto: Eike Walkenhorst.

"Gott ist ein DJ, und er heißt Fräulein Jolande" - so könnte für nachtkritikerin Sophie Diesselhorst das Motto von Anita Vulesicas Inszenierung von Georges Perecs absurder Komödie "Die Gehaltserhöhung" lauten, die sie am Deutschen Theater Berlin gesehen hat. Es geht um den Wahnsinn in einer entfremdeten Arbeitswelt, den ein Angestellter zu spüren bekommt, als er versucht bei seinem Chef um die titelgebende Erhöhung seines Lohns zu bitten - immer und immer wieder vergeblich. Zwar findet die Kritikerin den Abend ein bisschen "harmlos" geraten, sie freut sich allerdings trotzdem sehr über die  Performance des Theatermusikers Ingo Günther, der als Sekretärin Fräulein Jolande brilliert: Die "stellt sicher, dass es immer weitergeht und niemand aussteigt und hebt sogar einmal gezielt die Moral, wenn sie hinter ihrem Tisch hervorkommt, (per Playback) ein bisschen mit hoher Frauenstimme scattet und dazu dezent tänzelt. ... Hinter dem Empfangstresen, um den zu den Szenen-Umbrüchen eine zylindrische Wand niedergeht, als säße Frau Jolande in einer Zentrifuge, steht eine Wand aus orangenem Plexiglas. Aus zwei Türen an den beiden Seiten quellen die sechs Schauspieler heraus, die zusammen den Angestellten spielen." Tagesspiegel-Kritiker Patrick Wildermann attestiert Vulesica "ein tolles Gespür für den Wahnwitz und die niederschmetternde Komik der Vorlage."

Weitere Artikel: Für die taz unterhält sich Astrid Kaminski mit den KuratorInnen des "Tanzpol-Festivals", das Kunstschaffenden mit Repressions- und Migrationserfahrungen eine Bühne bietet. Tagesspiegel-Kritiker Rüdiger Schaper hat Samuel Finzis Auftritt in "Der Kaufmann von Venedig" am Nationaltheater Sofia besucht. Die Berliner Zeitung meldet mit dpa, dass Sivan Ben Yishai den Mülheimer Dramatikpreis gewonnen hat.

Besprochen werden Dominique Schnizers Inszenierung von Nis-Momme Stockmanns Komödie "Singularis. Von unserem unbedingten Streben nach Einsamkeit" am Deutschen Theater Göttingen (nachtkritik), die konzertante Aufführung von Peter Cornelius' Oper "Gunlöd" am Staatstheater Mainz unter musikalischer Leitung von Hermann Bäumer (FR), Mattia Russos und Antonio de Rosas Tanzstück "Kafka" am Staatstheater Wiesbaden (FR), Charlie Hübners Solo "Late Night Hamlet" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (SZ), Philipp Westerbarkeis Inszenierung des Musiktheaterstück "Michael Kohlhaas" nach Heinrich von Kleist am Theater Regensburg (nmz), David Böschs Inszenierung von Simon Stephens' Stück "Maria" am Staatstheater Nürnberg (SZ) und Jan Bosses Inszenierung von Choderlos de Laclos' Briefroman "Gefährliche Liebschaften" am St. Pauli Theater in Hamburg (taz).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.05.2024 - Bühne

Viermal Emilie du Chatelet in der Mainzer Inszenierung von Kaija Saariahos Oper "Emilie". Foto: Andreas Etter


2010 erlebte "Emilie" ihre Uraufführung, eine Oper der finnischen Komponistin Kaija Saariaho, die der französischen Mathematikerin, Physikerin und Philosophin Émilie du Châtelet (1706-1749) ein Denkmal setzte. Am Mainzer Staatstheater erlebte die Oper jetzt ihre deutsche Erstaufführung. Dafür teilte GMD Hermann Bäumer die Titelrolle auf vier Personen auf, die Regisseur und Bühnenbildner Immo Karaman auf vier gleichförmige Bühnenräume" verteilte - eine Idee, die nmz-Kritiker Andreas Hauff, der sehr gern zugehört hat, nur bedingt einleuchtet: "Ob die Unterschiede und Wechsel zwischen den Darstellerinnen und in der Beleuchtung eher zufällig sind oder sich mit einer Interpretationsabsicht verbinden, ist schwer zu sagen, da sich die parallel laufende Übertitelung des originalen Textes (französisch mit englischen Einsprengseln) an der Seite wegen des helleren Lichts von der Bühne nur sehr mühsam verfolgen lässt. Und während die historische Émilie du Châtelet zeit- und geschlechtertypische Grenzen sprengte, wirkt sie auf der Mainzer Bühne gleich vierfach wie in einen Käfig eingesperrt." Kaija Saariahos "sich beständig verändernder Klangteppich" hat Hauff jedoch genossen: "Es entsteht eine lyrische Grundstimmung mit vorsichtig dosierten dramatischen Momenten, die zugleich eine beachtliche Beharrlichkeit ausstrahlt."

Weiteres: Lene Grösch wird neue Schauspieldirektorin am Staatstheater Nürnberg, meldet die FAZ. Besprochen werden Charlie Hübners Solo "Late Night Hamlet" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (nachtkritik), David Böschs Inszenierung von Simon Stephens' Sozialdrama "Maria" am Staatstheater Nürnberg (nachtkritik), Rebekka Davids "Elektra, wir müssen reden" am Staatstheater Braunschweig (nachtkritik) und Wolfgang Menardis Inszenierung von Joël Pommerats "Ich zittere (1 und 2)" am Theater Oberhausen (nachtkritik).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.05.2024 - Bühne

Jakob Hayner ist in der Welt positiv überrascht vom Ausgang des Berliner Theatertreffens: "Hat es so etwas beim Theatertreffen schon einmal gegeben? Mit einhelligem Lob wurde die Auswahl der Jury in der Berichterstattung begrüßt, die üblichen Kontroversen blieben aus. Auch sonst blieb das Theatertreffen in seiner 61. Ausgabe von pseudo-politischen Peinlichkeiten verschont, die man bei anderen Kulturveranstaltungen wie der Berlinale und auch den Oscars zuletzt beobachten konnte. Und nach dem 'Publikumsschwund' in den Vorjahren sind nun auch die Zuschauer wieder zurück." Dass die Leiterin Nora Hertlein-Hull sich fast schwer getan hat, nur zehn Inszenierungen einzuladen, ist "eine erfreuliche Nachricht, die von der Lebendigkeit des Theaters zeugt. Tatsächlich bildet die Auswahl unterschiedliche Theatersprachen ab, die in ihrer Eigenheit jeweils eine große künstlerische Komplexität aufweisen - von der Stückentwicklung über die Performance und Immersion bis zur Klassikerbefragung. Was in der diesjährigen Auswahl nicht auftaucht, sind bemühte Thesenstücke oder Authentizitätshuberei."

In Berlin findet seit gestern zum zweiten Mal das Tanzpol-Festival statt, organisiert von Ashkhan Afsharian und Johanna Kasperowitsch, das sich der schwierigen Situation der iranischen Tanzkunst im Exil widmet, berichtet Sandra Luzina im Tagesspiegel: "Das Tanzpol-Festival will Sichtbarkeit für die Exil-iranische Tanzszene schaffen. Ursprünglich habe die Idee bestanden, mit dem Festival auch Tanzschaffende im Iran zu unterstützen. Doch das sei derzeit unmöglich, sagt Afhsarian. 'Seit 2020 gibt es keine Tanzszene im Sinne einer gut vernetzten Community mehr. Es wird immer schlimmer. Solange diese Regierung an der Macht ist, gibt es keine Hoffnung.'"

Weitere Artikel: Für die FAZ besucht Andreas Rossmann die Eröffnung der neuen Saison des Griechischen Theaters im italienischen Syrakus. Paul Currans Inszenierung von Euripides' "Fedra" zieht er Luca Michelettis Inszenierung von Sophokles' "Ajax" vor: Curran "entwickelt eine klare, gradlinige Inszenierung, die auf die zeitgemäße Neuübersetzung von Nicola Crocetti baut und sie rhetorisch ausfeilt." Im Interview mit Zeit Online darf der Choreograf Marco Goecke sich dazu auslassen, warum er sich trotz seiner Hundekot-Attacke auf eine Journalistin, die eine seiner Inszenierungen kritisiert hatte (unsere Resümees), als uneitler Künstler und geeignete Führungskraft versteht, die ab Sommer 2025 Ballettchef in Basel wird. Francois-Xavier Roth, Generalmusikdirektor der Stadt Köln, soll Kolleginnen sexuell belästigt haben, melden SZ und FAZ. Die SZ gratuliert dem aktionstheater ensemble zum 35. Geburtstag.

Besprochen werden "Codes of Conduct" von der Tanzkompanie NDT am Wiesbadener Staatstheater (FR), "Faust" an der Staatsoper Wien (Standard) und das Festival "Mitten am Rand" als Kooperation zwischen Alter Oper und Jüdischem Museum Frankfurt (FAZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.05.2024 - Bühne

Szene aus "Ein Sommernachtstraum"

FAZ-Kritiker Patrick Bahners ist vom ersten Moment an fasziniert von Jan Bosses Inszenierung von Shakespeares "Ein Sommernachtstraum" am Schauspiel Köln. Der zauberhafte Wald ist hier schon abgeholzt, tote Baumstämme stapeln sich auf der Bühne: "Jetzt könnte man einen gewaltigen Schreck bekommen und geloben, nachher zu Hause gleich eine Spende an die Letzte Generation zu überweisen. Stattdessen bestaunt man den Theatereffekt, den nonchalanten Aufwand des Aufschichtens der starken Scheite, und ist sofort verzaubert von der unheimlich idyllischen Stimmung. Das Waldsterben ist vollendet und daher angehalten. Die Zeit steht still. Doch nein, sie bewegt sich unmerklich, sacht, wiegend, auf Feenzehenspitzen. ... Rechts vorne auf der Bühne sitzt Puck und singt in Endlosschleife ein Auftrittslied."

Die Feuilletons melden: Marco Goecke wird neuer Ballettchef am Theater Basel. Goecke, der seinen Posten am Staatsballett Hannover wegen der "Hundekot-Attacke" (unsere Resümees) auf eine Kritikerin verlor, hat jetzt eine zweite Chance verdient, meint Dorion Weickmann in der SZ. Im Tagesspiegel beklagt Rüdiger Schaper, dass die angestoßene Debatte über das Verhältnis von Kunst und Kritiker schnell versandet ist.

Weiteres: Ingrid Gilcher-Holtey erinnert in der FAZ an eine legendäre Aufführung von Bertolt Brechts "Mutter Courage" in Paris im Jahr 1954, mit der Brecht den "größten Erfolg seit Ende der Weimarer Republik" feierte. Besprochen werden Milo Raus Inszenierung der Mozart-Oper "La Clemenza di Tito" bei den Wiener Festwochen (nachtkritik) und Immo Karamans Inszenierung von Kaija Saariahos Oper "Emilie" am Staatstheater Mainz (nmz).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.05.2024 - Bühne

Auf Backstageclassical spricht Axel Brüggemann mit dem Vorsitzenden der Konferenz der Generalmusikdirektoren Marcus Bosch über die mangelnde Rücksicht von Intendanten gegenüber Dirigenten. In der taz gratuliert Katrin Bettina Müller dem Theaterhaus Jena zu gleich zwei Preisen des Theatertreffens für das Stück "Die Hundekot-Attacke".

Besprochen werden Kornél Mundruczós Inszenierung der Puccini-Oper "Tosca" an der Bayerischen Staatsoper, die den SZ-Kritiker Helmut Mauro letztlich dank einer brillanten Eleonora Buratto in der Titelrolle überzeugt, Viktor Bodos Dramatisierung von Kafkas Roman "Amerika" am Schauspiel Stuttgart (FR), Nora Schlockers und Alexander Eisenachs Inszenierung der "Maria Stuart" am Münchner Residenztheater (FAZ) und Evgeny Titovs Inszenierung von Monteverdis "L'Orfeo" am Zürcher Opernhaus (NZZ).
Stichwörter: Theaterhaus Jena

Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.05.2024 - Bühne

Szene aus "Maria Stuart" am Müncher Residenztheater. Foto: Sandra Then.

Ziemlich klug findet nachtkritiker Martin Jost, was Nora Schlocker aus Schillers Königinnen-Drama "Maria Stuart" am Residenztheater in München gemacht hat: Hier haben nämlich beide Schauspielerinnen beide Rollen gelernt und jeden Abend wird neu ausgelost, wer wen spielt. Damit kehrt die Regisseurin für Jost heraus, wie ähnlich sich die Feindinnnen eigentlich sind: "Das Spiel der beiden Hauptfiguren ist exzentrisch. Von den fünf Männerrollen, die einen manierierten Höflings-Habitus pflegen, unterscheiden die Königinnen sich deutlich. Stieglers Maria Stuart ringt mit ihrem Körper um Kontrolle wie eine Marionette im Freiheitskampf. Ihr Gesicht zeigt Grimassen, als hätte sie ein verdorbenes Stück Luft abgebissen. Elisabeths Bewegungen spiegeln diejenigen Marias, aber in dem breiten Reifrock, den sie mittlerweile trägt, wirken sie viel gefährlicher für die Umstehenden. Nur in Elisabeths schwachen Momenten hält ihr Kronrat sie wie eine Puppe (Choreografie und Körperarbeit: Sabina Perry)." Auch SZ-Kritiker Egbert Tholl findet das Konzept brillant, leider führt eine kluge Idee "nicht zwangsläufig zu einem sinnlich aufregenden Erlebnis": Das Ganze ist ihm zu "spröde" geraten, das exzentrische Spiel der Königinnen überdeckt häufiger die Nuancen des Textes, bemängelt er.

Weitere Artikel: Das Berliner Theatertreffen ist zu Ende - die Kritiker resümieren: In der SZ ist Peter Laudenbach erleichtert, dass das Festival dieses Jahr "halbwegs unfallfrei" ablief, nur die neue Leiterin Nora Hertlein-Hull hat sich ein bisschen blamiert, findet er, in dem sie die Klimaaktivistin Luisa Neubauer eingeladen hat - dafür nicht einen einzigen Theaterschaffenden aus dem Osten. Im Tagesspiegel ist Rüdiger Schaper sehr zufrieden mit der diesjährigen Auswahl: Besonders das Solo-Stück "Laios" mit Lina Beckmann hat es ihm angetan. Den Alfred-Kerr-Darstellerpreis hat dieses Jahr der Schauspieler Nikita Buldyrski gewonnen - der Tagesspiegel druckt die Laudation von Ursina Lardi.

Außerdem: In der Welt freut sich Manuel Brug, dass es mittlerweile immer mehr Operproduktionen von Frauen gibt und porträtiert die Regisseurin Ilaria Lanzino. Besprochen werden Laura Linnenmanns Adaption von Fjodor Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasow" am Schauspiel Frankfurt (nachtkritik, FAZ, FR), Wilke Weermanns Adaption von Sybille Bergs Roman "RCE. #RemoteCodeExecution" am Theater Münster (nachtkritik), Nora Schlockers Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" am Münchner Residenztheater (nachtkritik, SZ), Jan Bosses Inszenierung von Shakespears Stück "Ein Sommernachtstraum" am Schauspiel Köln (nachtkritik), Viktor Bodós Adaption von Kafkas Romanfragment "Amerika" am Schauspiel Stuttgart (nachtkritik), Markus Dietzes Inszenierung des Stücks "Nach Peer Gynt" mit Motiven von Henrik Ibsens Drama am Theater Koblenz (nachtkritik), Tim Etchells Stück "L'addition/Die Rechnung" bei den Wiener Festwochen (nachtkritik), Robert Schusters Inszenierung von "Dibbuk - zwischen (zwei) Welten" nach dem Stück von Salomon An-Ski bei den Ruhrfestspielen (nachtkritik), Felix Rothenhäuslers Inszenierung von Goethes "Faust" am Theater Bremen (nachtkritik), das "Theaterspektakel" "Bau auf! Bau ab" im Humboldt Forum Berlin (taz), die Solo-Choreografie für Tänzer im Rollstuhl "an Accident / a Life" von Mark Brew und Sidi Larbi Cherkaoui beim Schweizer Tanzfestival "Steps" in Basel (FAZ) und Robert Carsens Inszenierung der Mozart-Oper "La Clemenza di Tito" bei den Salzburger Pfingstfestspielen (SZ, NZZ).